Erfahrungen mit einer „alten Dame“
Ich weiß nicht mehr genau, wann die „alte Dame“ und ich uns das erste Mal bewusst begegnet sind. Es muss etwa Mitte der 1980-Jahre gewesen sein. Sie war zu dieser Zeit schon über 70 Jahre alt, ich erst knapp über 20. Zusammengebracht hat uns Erika Ramminger, die als damalige Organistin der Kirchengemeinde eine Entlastung suchte und in mir schließlich auch fand.
Meine erste ernsthafte Zusammenarbeit mit meiner neuen Bekannten endete für mich allerdings im gefühlten Fiasko. Ich erinnere mich, dass ich als Orgelvorspiel für den ersten Gottesdienst ein Stück ausgesucht hatte, das ich bereits vorwärts/rückwärts auswendig konnte, ein 4-stimmiger Choral, nicht allzu schwer. Aber ich hatte die Eigenheiten der schon damals in die Jahre gekommenen „Dame“ unterschätzt.
Konkret: Die zeitliche Verzögerung, die zwischen „Drücken der Tasten“ und dem „klanglichen Resultat“ herrscht – bedingt durch das elektromechanische Fernwerk, was ich damals aber noch nicht ernstgenommen hatte.
Das, zwar mit Aufregung aber auch Selbstvertrauen auswendig begonnene Musikstück versandete nach wenige Takten. Die Klangverzögerung hatte mich völlig aus der Bahn geworfen:
Nicht das zu hören was man gerade spielt, sondern immer erst mit Verspätung, das war die Höchststrafe für jemanden, der mehr nach Gehör als nach Noten spielt!
Leer im Kopf, zitternd in den Händen und feucht auf der Stirn brachte ich gerade noch Subdominant- und Dominantakkord zustande, um dann in einem übertrieben langen F-Dur-Schlussakkord zu enden…
Es war das wahrscheinlich kürzeste Orgelvorspiel, das diese Gemeinde je gehört hat – denn ca. 15 Sekunden sind nicht wirklich lang. Peinlich, ärgerlich…
Neben der Tonverzögerung gab es eine zweite Eigenschaft meiner neuen „Begleitung“, an die ich mich erst gewöhnen musste: Die Lautstärkeneinstellung. Der Schweller hatte genau 2 Stellungen: Schallklappen auf / Schallklappen zu. Er arbeitete zu dieser Zeit also sozusagen schon „digital“. Andere Lautstärkeeinstellungen mussten über die Registrierung der beiden Manuale erzeugt werden, was Crescendo / Decrescendo nicht wirklich erleichterte.
Aber im Laufe der Zeit und mit dem gebotenen Respekt haben wir beide uns immer besser verstanden und ich lernte ihren angenehmen Klang und ihre Qualitäten zu schätzen. Über mehr als 33 Jahre hinweg haben wir uns in wohl mehr als 1000 Gottesdiensten gut aufeinander eingestimmt. Bis…
Ja, bis im Jahre 2012 ersichtlich wurde, dass die „alte Dame“ doch mal eine Frischzellenkur benötigt, innerlich und äußerlich.
Über 6 Jahre hatten wir beide keinen haptischen Kontakt und nun geht diese Zeit langsam zu Ende.
Hat sie sich sehr verändert? Vermutlich. Hab ich mich verändert? Bestimmt.
Wir treffen uns wieder, wie alte Freunde nach langen Jahren – etwas unsicher, was von der langjährigen Beziehung die Zeit überstanden hat, gemischt mit Vorfreude auf das, was sich verändert hat und uns bereichern könnte. Die Grundverbundenheit, die wird noch da sein, vielleicht etwas holperig am Anfang, aber ich bin sicher, wir werden uns wieder aneinander gewöhnen!
Und der Gemeinde stehen weitere Gottesdienste mit uns beiden bevor. Ob es nochmal 1000 werden, weiß ich noch nicht, aber die Orgelvorspiele sind mittlerweile deutlich länger geworden.
Christoph Wichmann, im Juli 2018